Grenzgang hart am Wind

Foto Rich Davies
Foto Rich Davies

 

Die Nacht beginnt in gefrorenem Wasser. Allacqua, Quellgebiet des Ticino im Val Bedretto. Kurz vor 10 in der Nacht laufen wir los. Rich, Pippa Hund und ich. Mond- und Sternenlicht lassen unsere Schatten auf dem Schnee tanzen. Baumschatten liegen leise am Wegrand und Schneekristalle glitzern wetteiferend in der Kälte. Es ist still, eine Stille die ich nicht höre sondern nur spüre, da mein Atem und meine Schritte die Stille übertönen. Die Kälte aussen kann mir noch nichts anhaben, denn ich setze Schritt vor Schritt vor Schritt. Das Gewicht der Ski an den Füssen und das, des Rucksacks am Rücken wärmen. Nur leicht steigt der Weg an und ich fühle mich kräftig und stolz. Ich, in der Nacht, auf dem Weg auf den Berg. Doch dann öffnet sich das Tal und gewährt einem eisigen Wind Einlass. Ein bisschen Hoffnung schwirrt noch durch Luft, dass der Wind beim Aufstieg über die Talflanke verschwinden könnte. und deshalb setzen wir unseren Weg fort. Mag der eine sprechen, mag der andere nicht. Selbst für Schokolade ist es zu kalt. Nur Pippa fühlt sich in ihrem Element und saltoschlagend scheint sie uns anspornen zu wollen. Der Weg wird steiler, der Mond heller, der  Wind eisiger. Das Gewicht der Ski und des Rucksacks wird unwichtig. Mein Körper kühlt aus trotz Bewegung. Meine Biwakdecke und meine dicke Daunenjacke, die im Rucksack liegen, beherrschen meine Gedanken. Ich könnte doch eine kleine Pause machen, in diese Kuhle, in der eigentlich die Hütte stehen sollte. Als Rache für die Falschaussage. Und überhaupt, weil ich fast nicht mehr kann. Aber irgendeine innere Kraft lässt mich mechanisch weiterlaufen. Pippa versucht mich aufzumuntern. Spürt sie, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben beim Laufen die Zuversicht und das Vertrauen in mich verliere? Hund, lass mich. Die Gedanken wieder bei der Biwakdecke und der Daunenjacke. Die Daunenjacke hat am Kragen weichen Flies. Wie schön wäre das jetzt - stattdessen zerkratzt mir der Wind das Gesicht, zerschneidet mir die obersten Hautschichten. Ich glaube mein linkes Auge friert ein. Verliere ich das Gefühl ums linke Auge? Sehen kann ich noch. Ich sehe, an den Skispitzen, dass meine Schrittlänge sich auf ein Minimum verkleinert hat. Schaffe ich grössere Schritte? Wozu? Wie lange geht es noch? Wie lange sind wir schon unterwegs? Das Zeitgefühl scheine ich im Tal gelassen zu haben. Vor mir immer wieder Richs Silhoette. Wird er auch langsamer? Und dann, die Silhouette der Hütte. Relativ nah. Und doch noch unendlich viele Schritte entfernt. Täusche ich mich oder vergrössert sich die Distanz? Und war das gerade ein Vogelschatten über mir? Die Daunenjacke im Rucksack. Ich könnte ... und dann kann ich die Hütte deutlich sehen. Aber immer noch, wieviel Schritte muss ich noch machen? Und dnn ist sie in Reichweite. Wo ist der Eingang? Links oder rechtsrum. Da taucht Rich auf. Worte, der Ermunterung und Gratulation, die nicht mehr bei mir ankommen. Ich will nur noch in die Hütte, lasse die Ski draussen stehen in der Hoffnung, dass Rich sie reinholt. Ich nehme Schneeverwehungen im Eingang wahr und dann den Raum. Schuhregal. Tisch. Holzbank. Setzen. Ich kriege keine Luft. Rich gibt mir Atemanweisungen. Und dann fangen meine Finger an zu schmerzen. Schmerzlaute dringen aus mir, mein ganzer Körper fängt an zu zittern. Ich kann nichts mehr kontrollieren. Keine Bewegung, keinen Laut, kein Wort, keine Träne. Ich will, dass das aufhört. Aber was ich will, ist nichts mehr wert. Kalter, süsser Eistee. Rich verschwindet. Ich bekomme wieder Panick. Der Hund meidet mich, verkriecht sich in eine Ecke. Ich wäre gerne der Hund. Und dann ein heisser Schluck Tee. Ich wusste nicht, welche Heilkraft ein heisser Schluck haben kann. Das Zittern lässt nach, langsam, mit Pausen. Mein Atem wird kontrollierbar. Sprechen geht noch nicht. Immer wieder gerät alles durcheinander. Aber die Angst weicht der Erleichterung. Ich lege mich in die Notschlafstätte , drei Decken werden über mich gelegt. Und der Schlaf tut sein Übriges, mich über die Grenze zurück in die Normalität zu bringen.

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